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Westerwelle und das Prekariat *

7. Januar 2010

* Zum „Prekariat“ gehören alle, deren Lebensbedingungen prekär sind, die in ungesicherten Arbeitsverhältnissen leben und wenig Hoffnung in die Zukunft haben. Der Begriff wird teilweise für die (sozial-)politisch nicht mehr korrekten Ausdrücke „Unterklasse“ und „Unterschicht“ gebraucht; andere lehnen diese Gleichsetzung als den Verhältnissen nicht angemessen ab.


Ich bin wahrlich kein FDP-Anhänger, erst recht kein Westerwelle-Fan – aber gestern in meinem Home-Office habe ich nebenbei das Dreikönigstreffen der Liberalen mitverfolgt. Dazu kam heute der ein oder andere Zeitungsartikel und nun „muss“ ich dazu meine Meinung schreiben:
Seit dem Regierungswechsel erwecken die Liberalen den Eindruck, als gebe es keine Krise. Sie tun so, als gebe es keinen Rückgang der Wirtschaftsleistung um fünf Prozent; als gebe es keine gewaltigen Konjunkturprogramme, keine Verlängerung der Kurzarbeitszeit, was alles zusammen allein 2009 zig Milliarden gekostet hat. Die Krise passt nicht in die schöne Welt, die sich die Liberalen in der Oppositionszeit zurechtgelegt haben und die sie nun laut ihrer Wahlversprechen in die Regierungszeit übertragen wollen.
Westerwelle hat gesagt, Leistung müsse sich wieder lohnen, die Mittelschicht dürfe nicht weiter geschwächt werden, es sei „kein Steuergeschenk“, wenn die Menschen wieder mehr von dem behalten dürften, was sie selbst erarbeitet hätten und dass alles andere von einem „dekadenten Staatsverständnis“ zeuge. „Wer etwas leiste, dürfe nicht länger bestraft werden“, so wörtlich. Schön gebrüllt Löwe.

Also dann halte ich den Staat laut Westerwelle für ausschweifend und über das normale akzeptable Maß hinaus für verschwenderisch (= dekadent) und nehme es hin, dass ich für meine Leistung als Beamter bestraft werde.
Äh Westerwelle? Alles noch klar bei dir im Oberstübchen?
  • Was ist mit den 1,1 Millionen Kurzarbeitern zurzeit, von denen viele ohne Verlängerung der Kurzarbeitszeit auf 24 Monate schon arbeitslos wären oder es bald würden – was dem Staat, also uns, um die 5 Milliarden kostet?
  • Was ist mit der Armut in Deutschland? Fast jeder siebte Bundesbürger ist davon aus unterschiedlichen Gründen (Dumpinglohn, Arbeitslosigkeit, Krankheit, niedrige Rente) betroffen bzw. bedroht. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes lag die sogenannte Armutsgefährdungsquote (Single ca. 850 € mtl.) in Deutschland im Jahr 2008 bei fast 15 Prozent, das sind mehr als zwölf Millionen Menschen. Ohne die Sozialleistungen des Staates hätte die Quote sogar bei 24 Prozent gelegen!
Armutsgefährdungsquote 2007 nach Bundesländern
  • Was ist mit der Kinderarmut? Derzeit leben in Deutschland rund 5 Millionen Kinder an oder unter der Armutsgrenze. Tendenz steigend.
  • Was ist mit dem Mindestlohn? Fakt ist, dass Deutschland das Land mit dem größten Niedriglohnsektor in Europa ist. Darum brauchen inzwischen zwei Millionen Beschäftigte zwei oder mehr Jobs, um über die Runden zu kommen. Mehr als eine Million Menschen müssen zusätzlich Hartz IV beantragen.

Persönlich zähle ich mich zu der sog. „Mittelschicht“ und bin ein bekennender Verfechter des Solidarprinzips. Meines Erachtens müssen die, die etwas haben, denen geben, die Hilfe benötigen. Und eines ist auch Fakt: Armut und (Nicht)-Bildung hängen bedingungslos zusammen.
Außerdem soll doch niemand glauben, dass jemand an oder unter der Armutsgefährdungsgrenze mit seinen 850 € (oder weniger) sich große Sprünge erlauben kann.
  • Was bleibt nach Abzug von Miete und allen Nebenkosten noch zum Leben?
  • Wie sieht es aus, wenn man dann vielleicht mal Verwandte oder Freunde besuchen möchte, sich aber die teure Bahnfahrt (z. B. Lübeck – Braunschweig mit dem Bummelzug [ohne ICE] 102 € lt. Tochter), oder,
  • falls man noch ein Auto hat, sich die Tankfüllung nicht leisten kann?
  • Mal Essen gehen, Kaffee trinken, Kuchen essen? Nicht dran zu denken!
  • Snack bei McDoof? Vielleicht mal eine Cheeseburger für 1 € nochwas. Mehr ist nicht drin.
Solange der Staat, also wir, nur das mindeste für einen Großteil unserer Gesellschaft tun, solange lasse ich mir von einem wie Westerwelle nicht vorwerfen, dass der Staat, das wir, die das unterstützen, ein „dekadentes Staatsverständnis“ haben. Ich sehe nicht, dass mit unseren Steuern und Abgaben „ausschweifend und über das normale akzeptable Maß hinaus verschwenderisch“ umgegangen wird. Im Gegenteil! Weiß Westerwelle wovon er redet? Hat er mit Menschen zu tun, die jeden Euro, jeden Cent umdrehen müssen? Ich glaube nicht – denn wenn er halbwegs bei Verstand wäre würde er so nicht reden wie er redet.

Seehofer mag ich zwar auch nicht besonders, aber zum Schluss möchte ich ihn zu diesem Thema aus seiner gestrigen Rede in Wildbad Kreuth dennoch zitieren: „Ich kann jedem der in der Bundespolitik in der Regierungsverantwortung steht, nur raten, was unser Motto ist: Maß und Mitte. Das heißt, man muss sich in der Politik nach Realitäten richten. Man kann sich nicht völlig losgelöst von Steuer- und Wachstumsraten in der Finanzpolitik bewegen“. Recht hat er, diesmal.

Also: dem sog. „Prekariat“ (EU-deutsch) ist mit ein paar Euro mehr im Monat viel mehr gedient als einer Entlastung der sog. „Mittelschicht“ um ein paar Euro!
^.^
12 Kommentare leave one →
  1. Doctor H. permalink
    7. Januar 2010 22:03

    Das stimmt leider auffallend. Denn in den letzten Jahren war ich immer mal wieder arbeitssuchend (auch länger, denn als über 50jähriger, will einen ja niemand mehr wirklich, was dann zu Hartz IV geführt hat). Der letzte Lohn war so niedrig (obwohl beim Einstellungsgespräch ganz andere Zahlen genannt wurde), dass ich netto so um die 1000 Euro Netto hatte. Das ist weiss Gott kein Gehalt, bei dem man in Luxus schwelgt. Als Single ist man ja eh schon schlechter dran, was die Fixkosten angeht. Der Effekt hinterher, als der Zeitvertrag nicht verlängert wurde? Knapp 640 Euro ALG 1, wovon man vorne und hinten nicht klarkommt. Miete, Strom, Telefon sind ja schon 560 Euro (meine Miete ist mit 420 Euro warm noch Superpreiswert). Trotzdem hat man da nur noch nen Hunderter zum Leben. Da lernt man bescheiden zu sein. Selbst das Wohngeld von 120 Euro – nur ein Tropfen auf dem heissen Stein. Die Gehälter sinf mittlerweile bei Neueinstellungen im freien Fall. In einem Jahr von 1800 auf 1100 runter. Dafür noch arbeiten? Ich möchte gerne wieder arbeiten, aber dass ich meine Arbeitsleistung verschenke, bloss damit eine Firma, die mit Dumpinglöhnen Mitbewerber aus dem Geschäft drängt, ein Supergeschäftsergebnis einfährt? Nee. Dazu kommt noch das tolle Gefühl, wenn die langjährigen Mitarbeiter in Unternehmen, die das gleiche machen wie du, Abends mit einem neuen Mittelklasse Auto nach Hause fahren (weil die knapp einen Tausender Brutto mehr verdienen), und du in die Patte guckst, ob du dir den Luxus für den öffentlichen Personennahverkehr antust, oder lieber die 2,30 Euro in Brot und Wurst investierst.

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  2. Vilson permalink
    7. Januar 2010 22:46

    Leider kann ich nur dazu erwiedern , was bis Brasilien durchsickert . Sowie Steuernachlass ,einerseits 10 Euro mehrin der Tasche ,doch die Steigenden Preise nehmen es Dir wieder weg.Nur erstaunlich wenn mann sich an der Copacabana in Rio umsieht , oder zu Carnaval in Rio , wimmelt es von Deutschen !LG nach Deutschland

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  3. sven permalink
    8. Januar 2010 08:43

    Zu den Steuersenkungsplänen: Nach dem aktuellen ARD-Deutschland-Trend sind mehr als die Hälfte der Bundesbürger gegen Steuersenkungen.Denn eines wird immer mehr klar: insbesondere die Kommunen werden darunter zu leiden haben und müssen im Gegenzug zum kommunalen Haushaltsausgleich die Gebühren und Abgaben erhöhen.Und das trifft das dann wieder die "kleinen Leute" am härtesten, die eh schon wenig im Portemonnaie haben.Das nenne ich ungerecht und seitens der FDP wird hier eine Klientel-Politik betrieben, eine weitere Umverteilung von unten nach oben.So wird die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander gehen ….

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  4. Doctor H. permalink
    8. Januar 2010 09:08

    Bei Steuersenkungen wissen doch mittlerweile alle, dass nur mal wieder umverteilt wird. Hier ein bisschen weniger,da ein bisschen mehr. Aber immer so, dass am Ende ich der Dumme bin. Ich möchte mal wissen, wann ich als lediger Single ohne Kinder von Steuersenkungen partizipiere?Ich frage mich, was so schlimm daran wöre, wenn man mal die richtig Reichen ein bisserl zur Ader lässt. Wenn ich die Zahl noch richtig im Kopf habe, sind 95% des Vermögens in den Händen von 5% der deutschen Bevölkerung. Umverteilt wird von den vernachlässigbaren 5%. Sehr effektiv ist das nicht grade, oder? Und wenn mal jemand, der 5 Millionen im Jahr verdient davon die Hälfte abgibt, hat er immer noch so viel, dass er sein Leben lang nicht hungern müsste..Ach, in diesem Pissland läuft soviel verkehrt…

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  5. Dreamer permalink
    8. Januar 2010 15:33

    Doctor Hakenbush, du hast Recht, es wird mal wieder umverteilt, natürlich wieder nach oben. Dabei, ich habe den Deutschlandtrend im Ersten gestern auch gesehen, wollen gerade die Besserverdienenden gar keine Steuerentlastungen. Genau "Sven", dann soll der Staat, also wir, doch lieber etwas für die ärmeren in unserer Gesellschaft tun, damit ihnen ein bisschen mehr Luft zum Atmen bleibt. Den Begriff Prekariat mag ich genau so wenig wie Unterschicht, aber das ist nun neues Amtsdeutsch, so wie ich das sehe.Liebe Grüße, bis später mal wieder (Telefon?), Doris

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  6. Doctor H. permalink
    8. Januar 2010 18:56

    @Dreamer – Ja, spätestens seit Helmut Kohl (wohlbeleibt, und weiss Gott nicht notleidend) den Aufruf zu "einem schlanken Staat" machte, passte vorne und hinten nichts mehr zusammen. Dem Bürger wurde immer mehr aus der Brieftasche genommen, die sozialen Leistungen gnadenlos zusammengestrichen. Und während ich über den Zeitraum von 10 Jahren immer weniger in der Börse habe, weil man es geschafft hat, den Standort Deutschland zur Mittelmäßigkeit verkommen zu lassen, packen sich die Politiker durch ständige Diätenerhöhungen immer mehr in die Taschen. Auch eine Art der Umverteilung…- Na und seit "Schorsche" Schröder mit seiner Agenda 2010 alles im Staat neue Namen verordent hatte, kam man sich doch schon leicht veräppelt vor. Das "Arbeitsamt" hiess über Nacht "Agentur für Arbeit". Jobs gabs dort aber trotzdem nicht. Der Sachbearbeiter hiess auf einmal Fallmanager, sah aber noch genauso aus wie einen Tag vorher. – Und war leider auch immer noch ein begriffstutziger Beamter, der selbst beim dritten Erklärungsversuch den Beruf nicht richtig einordnen konnte. Das Sozialamt hiess auf einmal "ARGE" (was sich wohl vom Wort ‚arg‘ ableitet, denn es wurde alles noch arger). Zuerst mal die Regelsätze zusammenstreichen. Sparen fängt in der Regierung ja immer beim anderen an. Dass sich die Diäten der Politiker aber im Gegenzug erhöhten, hatte ich erwähnt, ja? Man kommt sich hier wirklich verarscht vor. Und bloss weil man den Dingen auf einmal andere Namen gibt, hat sich doch an den miesen Eigenschaften nichts verändert. Ich glaube die Politiker halten den deutschen Bürger fälschlicherweise für einen ziemlich unterbelichteten Michel, der gähnend mit seiner Zippelmütze durchs Leben schlurft, und nicht viel davon mitbekommt, was um ihn herum passiert… ^^

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  7. Doctor H. permalink
    10. Januar 2010 06:35

    @Sven – da hatte ich schon einiges kritisches zu geschrieben. Ohne jetzt alles zu wiederholen.. liest du:
    https://thehackenbushtimes.wordpress.com/2009/08/31/skandal-spd-parteizentrale-auf-verseuchtem-boden-gebaut%e2%80%a6/
    The Hackenbush Times lesen, heisst für’s Leben lernen… LOLJau, bis später. Fahr langsam. Draussen liegt Schnee…^^

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  8. sven permalink
    10. Januar 2010 05:49

    @ Dreamrer & Doc: Keine Widersprüche. Was mich erschrocken hat ist, dass so viele Menschen in unserer Berliner Republik an der Armutsgefährdungsgrenze leben. Aber wenn wir das Land mit dem größten Niedriglohnsektor in Europa sind, kein Wunder. Ich kann immer "so’n Hals kriegen", wenn ich mitbekommen, wie wenig Leute teilweise verdienen. D. h. die verdienen eigentlich mehr, die kriegen nur so wenig. Und das ist nicht fair. Wer vollschichtig arbeitet, 160 Stunden in 4 Wochen, soll auch davon leben können und nicht noch auf Hilfe des Staates, also von uns allen, angewiesen sein!Doc, zu deinem Satz "Ich glaube die Politiker halten den deutschen Bürger fälschlicherweise für einen ziemlich unterbelichteten Michel, der gähnend mit seiner Zippelmütze durchs Leben schlurft, und nicht viel davon mitbekommt, was um ihn herum passiert", frage ich mich nur, wie das Wahlergebnis im letzten Jahr zustande gekommen ist. D. h. meine Tochter und ich haben uns das gestern gefragt – und was man eigentlich noch wählen soll. Nicht wählen ist ja auch keine gute Alternative.Bis später ….

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  9. sven permalink
    10. Januar 2010 08:02

    Jau Doc, hab’s gelesen. Traurige Realität – und es nicht ersichtlich, dass es besser wird. Es ist leichter "unten" rein als wieder dort raus zu kommen. Die Schere geht immer weiter auseinander. Armes Deutschland"

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