Ostern 2019: Bigott? Oder bigott!
Ostermontag. 22. April. Wie gehabt haben wir an diesem Tag schönes Wetter. Jedenfalls seit 36 Jahren. Der Besuch ist wieder weg – ein paar Fotos aus der Osterwoche im Foto-Blog – und nun sitze ich oberhalb unserer Bucht und lasse nachdenklich die letzte Zeit Revue passieren. Ich frage mich, wie bigott, im Sinne von scheinheilig, der Mensch – egal zu welcher Religion er sich bekennt – doch sein kann. Ist das so alles im Sinne des Allerheiligsten, egal wie jeder ihn, oder sie, nennen mag? Oder doch nicht? Aber wie Prof. Lesch zu sagen pflegt: “Wo die Ratio aufhört, da fängt der Glaube an.” – und im Namen des Glaubens ist eben nichts mehr rational erklärbar:
Ostersonntag. Während hier die Leute die Auferstehung Jesu Christi feiern und sich “frohe Ostern” wünschen, verüben – offensichtlich radikal islamistische – Selbstmordattentäter zeitgleich in Sri Lanka Bombenanschläge auf christliche Kirchen während der Ostermesse und auf Touristen-Hotels. Stand jetzt soll es mindestens 290 Tote gegeben haben.
In Paris brennt in der Osterwoche die weltberühmte Kathedrale Notre Dame. Zum Glück und Dank der vielen Einsatzkräfte kann die Struktur des sakralen Bauwerks und Weltkulturerbes gerettet werden. Präsident Macron verspricht den Wiederaufbau binnen fünf Jahren und ruft dafür zu Spenden auf. Die gehen ein: 100 Mio. von der Milliardärsfamilie Pinault, vom nächsten Großspender sollen es gar 200 Mio. sein, usw., usw.. Bis heute sollen so rund 1 Mrd. Euro zusammen gekommen sein. Zeitgleich meldeten sich Kritiker und fragen: “Wieso kommen für eine kaputte Kirche innerhalb so kurzer Zeit solche Summen zusammen – aber soziale Einrichtungen und Hilfsorganisationen müssen um jeden Euro kämpfen?” Besonders die Gelbwesten-Protestler kritisieren die hohen Spenden von den Reichen und wünschen sich ein gleiches Engagement für die hilfebedürftigen Franzosen. Für mich ganz perfide: Einige ach so christlich auftretende Rechtsextreme haben die noch brennende Pariser Kathedrale sogleich zum Abendland-Untergangsszenario erklärt – ohne überhaupt etwas über die Ursache zu wissen.
Vor vier Wochen. Vor der Küste Norwegens gerät ein Schiff voller Touristen in Seenot, alle verfügbaren Helfer eilen in Rettungsschiffen und Hubschraubern herbei um Schlimmeres zu verhindern. Gleiches Szenario im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien: Ein Schiff voller Migranten havariert und Helfer werden von staatlichen Institutionen am Helfen gehindert. Menschen ertrinken. Darf man das miteinander vergleichen? Man muss, meint jedenfalls Peter Maxwill auf SPON.
Manchmal beschleicht mich das Gefühl, Menschenwürde sei steigerbar: Die einen sind würdiger, andere weniger.
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Fernab des Glaubens versuche ich es mit einer hoffentlich verständlichen Erklärung:
Wir Menschen sind nicht nur homo sapiens, sondern mindestens ebenso auch homo ambivalens: Widersprüchliche Menschen.
Warum? Weil wir so sind. Weil das unverbundene Nebeneinander gegensätzlicher Gefühle und Gedanken ein Teil unseres Wesens ist und wir demzufolge dieselben Situationen unterschiedlich empfinden und bewerten.
Ambivalenz ist auch in den Religionen wie dem Christentum präsent: Gott ist zwar gut, trotzdem existiert das Böse. Das erzeugt Konflikte in unserem Inneren. Lösbar ist die Ambivalenz nur durch die Auslagerung, indem wir das Böse entweder dem Teufel oder der Schuld der Betroffenen selbst zuschreiben.
Jeder Mensch, der so verfährt, wird den Vorwurf der Bigotterie oder Scheinheiligkeit weit von sich weisen. Ob das allerdings einer rein humanistischen Prüfung standhalten würde, soll jeder glauben wie er will.
S.
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Moin. Vielleicht bin ich mit meiner Rationalität ja zu einfältig um das immer zu verstehen. Oder anders rum: Wenn meine Toleranz auf diese von dir beschriebene Ambivalenz trifft, dann wird sie mitunter arg beansprucht 😉
Na ja, mit dem religiösen Glauben habe ich ja seit je her so meine Probleme gehabt. Sich etwas hinzubiegen, damit es ins eigene Bild passt, ist eben nicht so meins.
Grüße aus Scharbeutz
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So gesehen … aber so eine Erklärung habe ich noch nie gehört / gelesen und der „homo ambivalens“ war mir bis dato völlig unbekannt 🤔
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Die Erklärung stammt nicht aus meiner Feder, sondern ich habe sie mir aus einem Fachbuch über Psychotherapie zu eigen gemacht.
S.
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