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CV-Tagebuch 04-22-2020 [ik sinnier mol so vor mi hin]

22. April 2020

Sitzen am Strand. Unendliche Weite. Am Horizont ein Schiff. Dahinter geht’s bekanntlich weiter. Momente zum Sinnieren.

Der 22.04. ist einer von den zwei, drei Tagen im Jahr, an denen ich zum Sinnieren neige. Aus Gründen. Nicht dass ich sonst nie sinniere – doch ja, so hin und wieder schon – aber sicher nicht so intensiv wie bspw. an einem 22.04.. Und ja, ich weiß, das Leben ist mathematisch nicht berechenbar, auf was-wäre-wenn-Fragen gibt es lediglich Konjunktiv-Antworten: Könnte so sein. Oder auch nicht. Das verbuche ich unter pictures without comment. So wie bei euronews das No Comment Format, welches aktuelle Bilder ohne Kommentar präsentiert und den Zuschauern allein durch die Kraft der Bilder eine Meinungsbildung ermöglicht.

Meine Bilder sind Momente, in denen die Zwillingen in mir oft kurze Zwiesprache halten:
Was wäre, wenn Sohnemann heute noch leben würde? Corona-Gefahr, er mit einem kollabierten Lungenflügel und niemand dürfte ihn in seiner Einrichtung besuchen, auch heute nicht, an seinem Geburtstag mit Schönwettergarantie?
Oh nee, da mag ich gar nicht dran denken! Sonst kriege ich wieder Albträume!
Was wäre, wenn ich heute in der Region Stockholm leben würde? Meine Tochter hatte mal die Idee, sich dort an der deutschen Schule zu bewerben. Oder in Bergamo in der Lombardei? Da hat Elio, mein Lieblingseisverkäufer aus der alten Heimat, sein Winterzuhause. Von New York will ich gar nicht reden.
Ich zitiere Napoleon Bonaparte: Am Ende einer Schlacht werden die Toten gezählt. Mit Blick in die Geschichtsbücher gilt das ebenfalls für Pandemien: Die Zahl der statistisch überzählig Verstorbenen wird spätestens im zweiten Satz genannt; für Deutschland: Spanische Grippe 1918-20: ~427.000, Asiatische Grippe 1957-58: ~30.000, Hongkong-Grippe 1968-70: ~40.000, Virus-Grippewellen 1995-96: ~30.000, 2004-05: ~20.000, 2017-18: ~25.000 Tote.
Nun ja, selbst wenn die Schlacht gegen das Corona-Virus noch längst nicht vorbei ist, sehe ich heute schon viele Grabsteine per 100.000 Einwohner: New York 175, Lombardei 125, Stockholm 40. Pi mal Daumen. Konkret bei uns in Ostholstein: 0, null.
Ich bin froh in Ostholstein zu wohnen! Aber wie gesagt: Wiedervorlage 22. April 2021. Mal sehen, wie es dann aussieht.

Noch so ein Bild, wenn die Alten erzählen: Im Januar 1970 habe ich mich angeblich über die wegen der Hongkong-Grippe verlängerten Weihnachtsferien gefreut. Das ist 50 Jahre her. Meine Freude soll allerdings von meinem Großvater nicht geteilt worden sein und der habe mir deswegen einen Vortrag über die Spanischen Grippe gehalten: Damals, 50 Jahre zuvor, als er froh war den 1. Weltkrieg überlebt zu haben und dann mit ansehen musste, wie seine Kameraden um ihn herum mit hohem Fieber starben.
Wie war das: Geschichte wiederholt sich?
Wie einst mein Großvater erzähle ich meinem Enkelkind vielleicht auch mal etwas über die Grippe-Pandemien und so. Und wenn sie mich dann fragen sollte, warum während der anderen Pandemien in Deutschland so viele Menschen gestorben sind, aber nicht bei COVID-19 (?), dann werde ich ihr einen Vortrag über frühzeitige Kontaktsperren, geschlossene Läden und Lokale, Einreise- und Versammlungsverbote, usw., halten. Ich werde ihr erklären, was wohl gewesen wäre, wenn wir das nicht so gemacht hätten, wie andere Länder mit der Krise umgegangen sind, warum dort mehr Menschen gestorben sind, Tote massenhaft mit Armee-Lkw wegfahren oder in Kühl-Lkw gelagert wurden, warum sie monatelang nicht in den Kindergarten durfte, warum Mama oder Papa so oft zuhause in ihren Büros saßen und warum seitdem immer ein Karton mit Gesichtsmasken im Vorratsraum liegt. Und ich werde ihr dieses Bild zeigen:

Lego-Bau vom Enkelkind, damit Mama nicht vergisst, wie ihr Büro in der Schule aussieht. Weil sie so oft zuhause ist.

Seit Wochen versuchen sich nun Wissenschaftler wg. Corona am Lebens-Konjunktiv und diese Krise hat uns Begriffe näher gebracht, auf die wir liebend gerne verzichten würden: Inzidenz, Letalität, Mortalität, Verdopplungszeit. Letztere hatten wir gerade verinnerlicht und zur Lockerung der ganzen Beschränkungen auf die von Kanzlerin Merkel verkündete Zahl von deutlich über 10 gewartet, da wurde von selbiger Kanzlerin die Reproduktionsrate zum Maß der Maße erklärt. Sie gibt an, wie viele Menschen ein Patient im Schnitt ansteckt. Laut Berechnungen des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung wäre ein Wert um 1 für das Gesundheitssystem gerade noch so verkraftbar. Allerdings beruhen all diese Berechnungen auf vielen Annahmen und faktisch überprüfbar sind sie nicht. Und manch einen beschleicht das Gefühl, dass viele Politiker im Grunde wenig bis nix verstehen und nur nachplappern, was ihnen Wissenschaftler vorher ins Gebetbuch geschrieben haben. Besonders wenn das jetzige Handeln als alternativlos dargestellt wird.

Reflexartig ruft das natürlich die Kritiker auf den Plan: Sie halten die wegen der Corona-Pandemie beschlossenen Grundrechtseinschränkungen aus ökonomischen und sozial-psychologischen Erwägungen teilweise und oder mittlerweile für unverhältnismäßig, überzogen und nicht gerechtfertigt. Doch helfen uns deren was-wäre-wenn-Annahmen weiter? Nö, nicht wirklich. Allerdings dürfen Grundrechtseinschränkungen nicht zur neuen Normalität werden und bedürfen einer ständigen Kontrolle. Dazu erlaube ich mir drei Anmerkungen:
1. Das Wort alternativlos kommt in meinem Wortschatz nicht vor, es gibt immer eine Alternative, wenngleich mit einem aktuell vermutlich nicht so guten Ergebnis. Das darf aber keine Diskussion unterbinden.
2. Bei uns darf jeder sagen was er denkt, auch zu Corona. Nur wäre es hilfreich, wenn die Phase des Denkens dabei nicht übersprungen wird.
3. Ich beneide die Leute, die schon immer alles gewusst, besser gewusst haben (Satire aus). Chapeau deshalb vor den Wissenschaftlern und Politikern, die sich der Diskussion stellen und zugeben, dass sie, wir alle, in einem ständigen Lernprozess sind. Desto besser das Virus verstanden wird, desto besser kann das Handeln darauf abgestimmt werden.

Allmählich wird uns allen bewusst, dass wir bis zu einem Impfstoff mit mehr oder minder erheblichen Beschränkungen werden leben müssen und die Gesichtsmaske zu unserem alltäglichen Accessoire gehört. Die Alternative wäre …, nee, da will ich heute nicht drüber nachdenken.

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Also: Maske auf, bleibt gesund – oder werdet es!  

7 Kommentare leave one →
  1. 22. April 2020 18:53

    Du: Allmählich wird uns allen bewusst, dass wir bis zu einem Impfstoff mit mehr oder minder erheblichen Beschränkungen werden leben müssen

    Ich gebe dir ungern recht. Wir werden wohl leider nicht so schnell zu unserem Leben wie vor der Coronapandemie zurückkehren können.

    Ute Scheub hat für diesen Fall, der irgendwann im nächsten Jahr hoffentlich eintreten wird, ein fiktive Rede für Kanzlerin Merkel geschrieben:

    Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute wende ich mich an Sie, um die Freude mit Ihnen zu teilen, dass wir gemeinsam die schlimmsten Auswirkungen der Coronakrise überwunden haben. Ich danke von Herzen allen Helferinnen und Helfern, besonders denen aus dem Gesundheitswesen!
    Uns allen ist in jenen Tagen schmerzlich bewusst geworden, dass Gesundheit einer der höchsten Werte ist. Unsere Krankenversorgung ist dem in den letzten Wochen nicht immer gerecht geworden. Wir hatten zwar viele Intensivbetten, aber nicht genug Pflegekräfte. Die Privatisierung des Gesundheitswesens, die standardisierte Abrechnung nach Fallgruppen, die Überlastung von Pflegekräften bei gleichzeitig schlechter Bezahlung – all das war keine gute Idee.

    Heute betrauern wir die Toten, die das Virus gefordert hat, und wir fühlen mit den Angehörigen. Wir als Bundesregierung müssen uns aber auch fragen, ob weitere Todesfälle vermeidbar waren und sind: die rund 25.000 Toten, die die Grippe jedes Jahr fordert, die jährlich 33.000 Personen, die multiresistenten Keimen erliegen, die 4.000 Verkehrstoten pro Jahr, die 10.000 Hitzetoten im Dürresommer 2018. Durch die Klimakrise ist es zudem wahrscheinlicher geworden, dass wir zukünftig Malaria-, Dengue- oder Nilfieber-Pandemien erleben. Wir sind es allen Menschen schuldig, dass wir hier genauso durchgreifen.
    Die Bundesregierung will deshalb Kliniken und Seniorenheime kommunalisieren, Pflegepersonal besser ausbilden, bezahlen und weniger belasten. Die tierquälerische und gefährliche Massentierhaltung als Hauptquelle multiresistenter Keime wird verboten. Landwirte, die Ställe tierfreundlich umbauen, bekommen Unterstützung. EU-Agrarsubventionen gehen vor allem an jene, die ohne Pestizide und Kunstdünger wirtschaften.

    Quelle / der ganze Beitrag:
    https://taz.de/Fiktive-Kanzlerinnenrede/!5670925/

    Gefällt 1 Person

    • 23. April 2020 10:58

      Moin. Die Rede finde ich gut, obwohl hier sicher mehr der Wunsch der Vater der Gedanken ist.
      Ich gestatte mir dennoch eine Anmerkung, weil genau diese Schreiberei Wasser auf die Mühlen derer ist, die die Corona-Pandemie für nicht mehr als eine übliche Grippe halten: Wir haben nicht „rund 25.000 Toten, die die Grippe jedes Jahr fordert“. Nein, zum Glück nicht. Wir hatten in den letzten ü 30 Jahren, siehe oben mein Text, und ich hoffe richtig recherchiert zu haben, drei große Virus-Grippewellen mit vielen Toten: 1995-96: ~30.000, 2004-05: ~20.000, 2017-18: ~25.000. Alle anderen Jahre waren es „ein paar hundert“. Diese Grippewellen haben wir immer wieder, wenn ein bekanntes Virus mutiert oder neue dazu kommt und die üblichen Impfstoffe nicht helfen. Ein Blick nach New York zeigt deutlich, dass die Corona-Pandemie eben keine „übliche Grippe“ ist und wenn Präsident Trump das rechtzeitig akzeptiert und nicht abgetan hätte, wäre den New Yorkern sicher viel Leid erspart geblieben.
      Meine ich. Grüße, bleibe gesund!

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  2. 24. April 2020 21:30

    Ja, und so was von konkret. ^^

    Bei der Gelegenheit auch mal wieder ein schönes Wochenende. 😀

    Claus

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  3. 24. April 2020 21:48

    Ich bin jedenfalls froh in Deutschland zu leben und eine sachliche, unaufgeregte, geistig gesunde Bundeskanzlerin zu haben.
    Die denkt jedenfalls nicht darüber nach ob nicht Sagrot.n spritzen das Mittel der Wahl wäre.
    Ich hoffe sehr, dass ich auch 2021 hier lese und kommentiere und du nicht mehr CV Tagebuch schreibst sondern was über Füße baumeln lassen in der Ostsee oder so.
    Grüße ins Land meiner Vorfahren,
    Brigitte

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