An Tagen wie diesen: „Die Schlafwandler“
Es gibt diese Tage, wo mi alle mol an’n Mors kleien könn. Ich gestatte mir zwei solcher Tage. Aus Gründen. Und dann bin ich wohl auch nachdenklicher, sinnier so vor mich hin. Vielleicht sinniere ich in der letzten Zeit, ich sag‘ mal in den letzten 8 Wochen, mehr als sonst? Mag sein.
Na ja, während ich da so auf der Bank sitze und auf’s Meer blicke, kommt mir Christopher Clark in den Sinn, genauer sein Buch
Die Schlafwandler
Wie Europa in den
Ersten Weltkrieg zog
Vielleicht komme ich deshalb drauf, weil ich das gestern schon einmal in einer Antwort an Eberhard erwähnt habe? Mag sein. Vielleicht aber auch weil ich weiß, dass nicht nur ich mich in dieser Kriegszeit an das Buch erinnere.
Christopher Clark ist ein australischer Historiker und lehrt(e) in Cambridge. 2012 veröffentlichte er sein Buch The Sleepwalkers, das 2013 auch in der deutschen Übersetzung als Die Schlafwandler erschien. Er beschreibt darin, wie Europa 1914 mit schlafwandlerischer Sicherheit in den Ersten Weltkrieg geschliddert ist. Das Besondere an dem Buch ist für mich, dass Clark nicht nach dem oder den Schuldigen sucht. Dazu merke ich an, dass die Frage nach einer Schuld für mich so wie so in den Gerichtssaal gehört, oder meinetwegen auch in die Kirche. Clark hingegen hat die historischen Quellen, vom Belgrader Königsmord 1903 bis zum Attentat von Sarajevo 1914, gesichtet, interpretiert, mit Narrativen, Vorurteilen aufgeräumt und seine Ergebnisse, die Herausarbeitung der Verursacher, m. E. plausibel nachvollziehbar begründet – ohne dabei für die eine oder andere Seite einen Rechtfertigungsgrund zu liefern. Vielmehr sagt er:
In dieser Geschichte gibt es keine Tatwaffe als unwiderlegbaren Beweis, oder genauer: Es gibt sie in der Hand jedes einzelnen wichtigen Akteurs. So gesehen war der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein Verbrechen.
Christopher Clark, 2012, „Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“, Seite 716
Das unterscheidet m. E. den Ersten vom Zweiten Weltkrieg, wo eine Tatwaffe eindeutig zuordenbar ist. Beim Begriff Tragödie muss ich allerdings stets unweigerlich an Karl Marx denken, der einst über Hegel sagte:
Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er vergaß hinzuzufügen: Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.
Karl Marx, 1852, aus „Über andere Personen“, Seite 115
Niemand wird bezweifeln, dass der Erste Weltkrieg eine Tragödie war ….
Und genau das bereitet mir heute Sorgen. Das, was auch als Sarajevo Incident bekannt ist: Ein Ereignis, welches wie ein Zündfunke eine schwelende Krise zum endgültigen kriegerischen Ausbruch bringt. Da bin ich beim Preußen Clausewitz:
Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.
Carl von Clausewitz, „Vom Kriege“, Buch I, Kapitel 1, Abschnitt 24
Das will heißen, dass kein Krieg einfach so passiert, sondern stets eine politische, diplomatische Vorgeschichte hat. Noch haben wir im westlichen Europa nur eine schwelende Krise, um bei diesem Terminus zu bleiben. Noch ist der Krieg auf die östliche Ukraine beschränkt. Nicht nur Historiker sind sich heute einig, dass die Geschichte anders verlaufen wäre, wenn sich ein Krieg 1914 nach dem Sarajevo-Attentat allein auf Österreich-Ungarn und Serbien beschränkt hätte. Aber egal, es ist wie es ist und wir können nur hoffen, dass sich zumindest diese Geschichte nicht wiederholt.
In einem Punkt lag Mister Professor Clark jedoch daneben: In einem Interview im Januar 2014 antwortete er auf die Frage, ob wir heute vor solchen furchtbaren Entwicklungen gefeit sind?
… Aber in Europa ist, glaube ich, die Gefahr eines solchen Krieges gebannt. Weil es andere Strukturen gibt …. Und weil die Staatsführungen zunehmend vernetzt sind, weil es schiedsrichterliche Institutionen und Kompetenzen gibt, die es eben damals (1914) nicht gegeben hat, … weil es zunehmend eine konsensfähige Sicht auf die Problem-Situationen gibt. Und so ist, glaube ich, Europa-intern diese Gefahr (eines Krieges) gebannt.
Christopher Clark, DLF-Interview mit Thilo Kößler, 20. Januar 2014
Wie gesagt, Januar 2014. Zwei Monate später, im März erfolgte die Annexion der Krim durch die Russen und im April 2014 begann der Krieg durch von Russland unterstützte Separatisten im Donbas. Dann kam als nächstes der 24. Februar 2022. Das weitere, Sarajevo-Incident und Zündfunke, und so weiter, will ich mir gar nicht ausmalen. Aber mir wird bange, wenn ich heute Politiker und Journalisten höre, die lauthals die Lieferung von Panzern und so’n schweres Waffen-Gedöns an die Ukraine fordern. Vielleicht ist das irgendwann ein Panzer zu viel ….

898 [Inhaltsverzeichnis Sven Meier erzählt | Fotoblog]
Wir „schlafwandeln“ zwischen
dem „Offenen Brief“ von Antje Vollmer, Konstanin Wecker & Co., die BK Scholz zum sofortigen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine auffordern, weil jede gelieferte Waffe den Krieg verlängert, der Opfer und Zerstörung fordert und eine diplomatische Lösung in weite Ferne rücken lässt –
und den lauten Rufen von Anton Hofreiter, Roderich Kiesewetter & Co., die sofort schwere Waffen, Panzer, usw., für die Ukraine fordern, damit die Russen nicht eines Tages vor unserer Grenze stehen.
Gibt es zwischen diesen beiden Extrempositionen einen Mittelweg? Wenn ja, wie sieht der aus? Oder geht den BK Scholz bereits?
Die Historiker werden das eines Tages analysieren.
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Ein Nachtrag, eben gelesen: Dieter Ruloff, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Zurüch, meint, der Krieg könnte von Putin am 9. Mai, dem Jahrestag des Triumps über Nazi-Deutschland, für beendet und als Sieg über die „faschistische Ukraine“ erklärt werden. Putin würde in dem Fall wieder das Narrativ bestimmen und behaupten, dass man nun alles habe, was man wolle, sprich den Frontverlauf im Donbass mit einer Landverbindung zur Krim würde er als neue Grenze deklarieren, um diese bei ukrainischen Angriffen nur noch zu verteidigen. Dann käme es auf die Ukrainer an, ob sie dass so hinnehmen oder weiter Krieg führen wollen, um die besetzten Gebiete zurück zu erobern. Womit? Dann hätte die Frage nach den „schweren Waffen“ eine neue Qualität.
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Moin. Na ja, wenn Prof. Ruloff (einer dieser Experten, die es im Dutzend jeden Tag in den Medien gibt, die alles meinen zu wissen?) das sagt … 😉
Ok, also 1. Wiedervorlage heute Abend i. S. Frankreich,
2. Wiedervorlage 9. Mai i. S. Ukraine/Russland.
Lassen wir uns überraschen 😉
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Tschetschenien, Aleppo, Krim, die Separatisten im Donbas. Und der Westen hat in keiner Weise reagiert, die Augen zugedrückt und halbherzige Sanktionen verhängt. Über die Putin wahrscheinlich nur lacht. Wir mögen schön darüber diskutieren, was nach dem Völkerrecht als Kriegsgrund oder Kriegseintritt gelten könnte, während Putin gerade auf das Völkerrecht scheißt. (Sorry für den Ausdruck, aber er trifft es) Putin allein bestimmt doch das Narrativ, wen er warum als Feind ansieht. Im Moment ist es gerade die Republik Moldau. Dort, in Transnistrien, das Putin vielleicht auch bald als souveräne Volksrepublik anerkennen könnte, werden nach seinen Worten auch gerade schwerste Menschenrechtsverletzungen gegen russischsprechende Menschen begangen. Uns sollte inzwischen klar geworden sein, dass derartige Äußerungen von Putin keine leeren Worte sind. Die Südukraine eröffnet russischen Truppen den Landweg in die Separatistengebiete in Moldau. Und heute gab es schon erste Angriffe auf Odessa.
Putin droht dem Westen unverhohlen, und Kanzler Scholz erklärt schon mal in aller Offenheit, was Deutschland alles nicht tun wird. Manche könnten das als Einladung verstehen.
Im russischen Fernsehen wird über einen Angriff auf die NATO diskutiert, in so manchen russischen Städten kann man Demonstrationen erleben, in denen skandiert wird, wohin man überall Panzer schicken sollte. Prag, Riga und Berlin werden schon mal zu russischen Städten erklärt. Das erinnert tatsächlich fatal an die Kriegsbegeisterung in Deutschland im Jahr 1914. Jeder Tritt … jeder Stoss … Man kennt es. Die Saat der Hass-Propaganda geht auf.
Ende der Kampfhandlungen und Verhandlungen ja, da wäre ich sehr dafür, aber es müssten dann schon Verhandlungen auf Augenhöhe sein, andernfalls wäre es nur ein russisches Diktat. Die Ukrainer haben das Recht, selbst zu bestimmen, welchen Weg sie gehen wollen. Ohne Unterstützung würde die Ukraine aus einer Position der Schwäche verhandeln, es würde also auf ein Diktat hinauslaufen. Ein solches würde nur dazu führen, dass Putins Einflusssphäre größer würde. Und würde sich Putin damit zufriedengeben? Keine schweren Waffen liefern würde den Krieg verkürzen? Ist das ein Versprechen? Schön wär’s. Vielleicht aber würde es das Abschlachten verlängern. Kann jemand garantieren, dass dem nicht so ist? Die Geschichte der russischen Armee lässt Zweifel an dieser Hoffnung aufkommen.
Nun komme ich auch mal mit einem Zitat von einem Klassiker des Marxismus-Leninismus um die Ecke :-))), und zwar mit Wladimir Iljitsch persönlich. Von dem stammt der Satz: „Pazifismus und abstrakte Friedenspredigt sind eine Form der Irreführung der Arbeiterklasse.“ Ich denke, dass Putin diese Worte nicht unbekannt sind und dass er sie in seinem Sinne zu nutzen weiß. Denn auch folgendes stammt von Lenin: „Massenerschießungen sind ein legitimes Mittel der Revolution.“ Und wie man heute weiß, auch ein Mittel für militärische Spezialoperationen.
Morgen werden wir das Ergebnis der Wahl in Frankreich kennen. Und das wird mit Sicherheit ebenfalls Auswirkungen auf die Zukunft haben.
Mit herzlichen Grüßen aus dem Vogtland
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Moin Eberhard.
Weißt du, ich würde dir sooo gerne widersprechen. Nicht um des recht haben willens, nee, nee, sondern um der Sache wegen. Gerne würde ich dir sagen: „Nee, Eberhard, da irrst du! Lies mal hier nach, schau mal dort, da steht etwas anderes, was dir widerspricht.“
Aber: Kann ich nicht. Alles was du sagst, ist nachzulesen. Nicht nur bei Wikipedia 😉 sondern auch bei zitierfähigen Politik- und Geschichtswissenschaftlern.
Gewissermaßen ist das Realsatire. Christian Ehring von „extra 3“ hat vorvorgestern im Prinzip das Gleiche gesagt, filmisch dargestellt, wie du – am Ende mit dem Zeigen der Politiker, dass Putin sie belogen und getäuscht habe. Konnte ja keiner ahnen …. „Das ist so, als wenn man 20 Jahre sonntags immer denselben Tatort guckt und am letzten Sonntagabend vom (Film)Ende überrascht ist.“ So (fast wörtlich) Ehring.
Irgendwo habe ich unlängst gelesen, dass wir „im Westen“ eine sehr selektive Wahrnehmung vom „Krieg“ haben, was auch mit dem Terminus der medialen Berichterstattungen zusammenhängt. Ex-Jugoslawien: Bürgerkrieg. Tschetschenien, Georgien, Transnistrien: Alles Gebiete mit einer mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung, die nach der Implosion der Sowjetunion lieber zu Russland gehören wollen, als zum neu gegründeten Staat. Also irgendwo eine „innere Angelegenheit“, die die unter sich ausmachen sollen. Und gehören die Gebiete überhaupt zu Europa? So der Tenor. Krim, Donbas? Die Ukraine gehört zwar eindeutig zu Europa, aber doch irgendwo das Gleiche, mehrheitliche russischsprachige Bevölkerung …. Zwar nicht toll, was Putin da gemacht hat, aber was soll man machen? Die nach der Annexion der Krim verhängten Sanktionen waren jedenfalls nur halbherzig und wirtschaftlich gesehen musste der Rubel ja weiter rollen.
Dann kam der 24. Februar. Und „alle“ zeigten sich überrascht – weil man gehofft hatte, auf diplomatischem Wege wenigstens das Überschreiten dieser „roten Linie“ verhindern zu können. Und nun?
Das möchte ich noch anmerken: Als ich im Beitrag geschrieben habe:
„Das unterscheidet m. E. den Ersten vom Zweiten Weltkrieg, wo eine Tatwaffe eindeutig zuordenbar ist.“
war ich mir nicht sicher, bin es es heute noch nicht, wie ich im Kontext der Clarkschen Ausführungen Putin und den heutigen Krieg einordnen soll? Bisher ist „die Tatwaffe“ wohl eindeutig Putin zuzuordnen. Bisher reden wir aber auch „nur“ über den Krieg in der Ukraine. Es geht doch um nicht mehr und nicht weniger, eine Ausweitung des Krieges zu verhindern. Ich glaube, niemand kann heute mit Sicherheit sagen, wie das am besten gelingt. Ethisch gesehen machen wir uns so oder so schuldig. Das haben gerade zu Ostern auch genügend Kirchenvertreter festgestellt. Habeck sagte: „Zuschauen wäre die größere Schuld“.
Den „Königsweg“ aus der Geschichte gibt es wohl nicht. Vllt. kommt es ja wirklich so, wie mein Freund S. im Kommentar zuvor geschrieben hat, dass Putin von sich aus am 9. Mai den Krieg für beendet erklärt und ab dann nur noch „seine neue Grenze“ verteidigen will. Natürlich alles „zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung“.
Eberhard, ich weiß es nicht und ich bin zerrissen und bleibe es wohl noch eine Weile. Aber eins scheint wohl zu passieren, so wie es Schröder gerade der NYT im Interview gesagt hat: „Sie können ein Land wie Russland langfristig nicht isolieren, weder politisch noch wirtschaftlich“. So schwer es mir fällt zuzugeben, damit hat er wohl recht. Mal davon abgesehen, dass Russland heute, trotz der ganzen westlichen Sanktionen, nicht isoliert ist. Die asiatischen Staaten handeln weiter mit Russland und ich möchte nicht wissen, was eben über diese Umwege in Russland rein und raus geht, was vorher direkt gehandelt wurde. Pi mal Daumen kann man sicher sagen, dass die 58 Staaten, die sich bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung am 2. März zur Verurteilung der Invasion in die Ukraine der Stimme enthalten haben, auch weiter mit Russland Handel treiben.
Ach ja, vllt. erliegt Putin ja doch demnächst nächtens „einem Herzinfarkt“ und dann kommt ein neuer Präsident, der den Resett-Knop drückt.
Schön mit dir wieder geplaudert zu haben, hoch lebe der Diskurs 😉
Viele Grüße aus Ostholstein ins Vogtland
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Danke für Deine Antwort. Eins kannst Du mir glauben, zerrissen bin ich innerlich genauso. Es fällt mir nicht leicht, so etwas zu schreiben oder überhaupt in solchen Kategorien zu denken. Das widerspricht so ziemlich allem, für was ich vor diesem bewussten Tag stand. Ich versuche wahrscheinlich nur, Emotionen irgendwie in rationale Bahnen zu lenken und die Strukturen von dem, was gerade geschieht, zu erkennen. Nur eins kann ich nicht, alles ausblenden und so tun, als wäre nichts geschehen. Aber da geht es Dir sicher genauso, sonst würdest Du Dich nicht so ausführlich und nachdenklich des Themas annehmen. 🙂
In diesem Sinne einen herzlichen Gruß aus dem Vogtland
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